Eine Beichte, damit sollte ich beginnen – eine Lebens-Beichte sozusagen. Denn ich entspreche nicht den Kriterien, die in Herrn Schüsslers Aufruf genannt werden: Ich kann weder eine beeindruckende Karriere vorweisen, noch habe ich die Forschung in Deutschland zu neuen Höhen geführt oder an außergewöhnlichen Orten gelebt. Zudem gehöre ich eindeutig nicht zu den angesehensten Berufsgruppen in Deutschland, da ich weder Feuerwehrmann, noch Arzt, Krankenpfleger, Erzieher oder Polizist bin. Ich bin Angestellter (ohne Personalverantwortung) bei einem größeren deutschen Mittelständler in der Medienbranche. Und an all diesen „Missständen“ ist – auch – das Gymnasium Michelstadt schuld.

So wie das Gymnasium Michelstadt auf seine Geschichte zurück blickt, blicke auch ich als Ehemaliger auf mein Leben zurück. Wohin hat es mich nach dem Abitur verschlagen und warum ist das GyMi daran „schuld“ – sprich: es werden die großen Fragen nach dem „wo komme ich her, wo gehe ich hin“ und „wer bin ich und was habe ich erreicht“ gewälzt. Diese Introspektion führt zu interessanten Erkenntnissen, denn es lässt sich feststellen, dass mich mein Weg vom Abitur im Jahr 2001 entgegen meinen damaligen Erwartungen nicht zu einem ganz speziellen Beruf und Ort geführt hat. Unser GyMi bietet eine breite Palette an geistigen Betätigungsfeldern, bietet seinen Absolventen im wahrsten Sinne eine Allgemeinbildung an. Und ich konnte mich schon immer für nahezu alles interessieren, was die Fachlehrer uns nahezubringen versuchten. Mein Argument damals wie heute: Was die erzählen, muss ja irgendwie interessant genug sein, um sie zu ihrem Studium bewegt zu haben.

Dementsprechend hatte ich keine Bestimmung, keinen vorgefertigten Plan, keine individuelle Berufung, die in mir brannte; ich beneidete immer diejenigen, denen dieses Feuer innewohnte. Mein Plan bestand darin, etwas machen zu wollen, für das ich mich interessieren kann und das mir hilft, anständig über die Runden zu kommen. Etwas anfangen, hinter dem man stehen kann und die Chancen beim Schopf ergreifen, die sich daraus ergeben. Mein Lebensweg entfaltete sich entsprechend breit: Nach dem Abitur bin ich zwei Jahre bei der Bundeswehr geblieben, bin aus Flugzeugen und Hubschraubern gesprungen, LKW gefahren und habe in einem Sicherheitsbereich, für den die Geheimhaltungsstufe gilt, am Schreibtisch die täglich auflaufenden Papierberge bekämpft.

Als diese Zeit zu Ende ging, wollte ich gerne studieren und bin meiner zukünftigen Frau (die ich übrigens am GyMi kennenlernte) ins wilde Ruhrgebiet hinterhergezogen, mehr oder weniger ungeplant und spontan. Unser Plan war eigentlich gewesen, mittelfristig wieder gemeinsam in Richtung Odenwald zurückzuziehen. Geblieben sind wir in Essen dann aber 10 Jahre, haben studiert, Freunde gefunden, geheiratet, eine Familie gegründet. Heute bin ich stolzer Besitzer eines Abschlusses in Kommunikationswissenschaft, Alte Geschichte und BWL/Marketing, eine Kombination bei der immer alle fragen: „Moment, was alles?“ Breit gefächert eben, eine Mischung aus Herzenslust und materieller Notwendigkeit, „Sapere aude“ ohne Brennpunkt.

Auch mein beruflicher Werdegang ist passenderweise breit, über Tätigkeits-, Unternehmens- und Branchengrenzen hinweg: Ob im Siemenswerk für riesige Kraftwerks-Generatoren, an der Universität Duisburg im Forschungsbereich für die unfassbare kleine Welt der Nanotechnologie, in Bochum an einem Institut für Innovations- und Managementforschung, dem Land Rheinland-Pfalz oder jetzt zu Bank- und Finanzthemen in der Medienbranche, ich kann mich dafür begeistern. Und daran hat das GyMi durchaus „Schuld“, weil es mir gezeigt hat, dass überall etwas zu entdecken ist – wenn man denn hinschaut. Diese Entwicklung mag nicht als beeindruckende Karriere gelten, mag aber auf viele Ehemalige so oder ähnlich zutreffen.

Um die Beichte zum Abschluss zu bringen, bleiben noch die exotischen Orte. Sicher, ich habe Orte jenseits der heimatlichen Scholle im Odenwald gesehen; aber ich bin kein Weltenbummler, Expat oder Aussteiger. Ein Hesse im Ruhrgebiet zu sein war exotisch, bei allen beruflichen Stationen bin ich herumgekommen, durfte kürzlich erst einen Monat in unserem Office in Oxford verbringen und vielleicht schaffe ich es bald für einige Zeit in unser Office in Delhi. Aber ist dies der ausschlaggebende Punkt für das, was und wer ich bin und wie das GyMi meinen Lebenslauf prägte? Die einfache Antwort lautet: Nein, ist es nicht.

Im Grunde habe ich meine Beichte mit einer Halbwahrheit begonnen: Das GyMi hat mich nicht planlos und – im besten Sinne – mit universalen Entwicklungsmöglichkeiten ins wahre Leben entlassen. Eine steilere Karriere, ein größerer Beitrag zur Forschung, exotischere Orte wären allesamt möglich gewesen. Und dafür bin ich dankbar. Aber: Schon immer wollte ich eine Familie, mit der ich Zeit verbringen und die kleinen Dinge des Lebens genießen kann. Nicht der große Wurf war immer das, was ich wollte, sondern die kleinen Schritte, ein Hineinwachsen ins Leben. Weniger Calvinismus, mehr diesseitiges Genießen. Und das ist mir mit einer wunderbaren Frau und Kindern, auf die ich jeden Tag stolz sein kann, auch gelungen.

Es gibt nichts zu bereuen und nur die Feststellung, dass unsere Alma Mater im lauschigen Michelstadt ein Möglich-Macher war, ist und hoffentlich auch bleibt; ein Ausgangspunkt, der allen jungen Abiturienten das Handwerkszeug mit auf den Weg gibt, ihren Weg im Leben zu gehen – unabhängig davon, wie planvoll, erfolgreich, exotisch dieser auch sein mag. Danke allen, die das GyMi mit Leben erfüllen und so jungen Menschen immer wieder alle Chancen eröffnen!